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Störche, Rettungsschirme, viele Sprachen

Thüringer Trachtenverband und Thüringer Trachtenjugend im
Europäischen Parlament – Oktober 2011

Es waren vor allem die Dialekte, die bei der Zugfahrt quer durch Deutschland die Unterschiede der Regionen vermittelten. Einige Mädels aus Zella – Mehlis, die unterwegs zustiegen,  sprachen den sympathischen Südthüringer Dialekt. In Würzburg waren schon unverkennbar bayrische und fränkische Idiome zu hören. Die Sprache änderte sich dann, als wir in den Nachmittagsstunden durch Baden-Württemberg fuhren. In Bietigheim-Bissingen, wo wir während der Hinfahrt umsteigen mussten, ist übrigens unsere Vorsitzende der Deutschen Trachtenjugend, Nicole Dlabal, daheim. Auffallend: die starke industrielle und wirtschaftliche Kraft der Region. Die Zentren des agglomerierten Stadtraumes sind unter anderem durch  die Überlandstraßenbahn verbunden, die teilweise bis nach Karlsruhe und weiter auf den normalen Bahnschienen fährt.

In der Ortenaubahn, die dann Richtung Straßburg mit uns unterwegs war, war die Ansage bereits zweisprachig. Beim Gang entlang der Rheinpromenade zur Jugendherberge fiel uns neben der Europabrücke, die das französische Ufer von Straßburg mit dem deutschen Ufer von Kehl verbindet vor allem auf, dass zahlreiche Spaziergänger grenzüberschreitend unterwegs waren. Augenscheinlich befanden sich dazu zahlreiche Migranten darunter. Am französischen Ufer rauchten die Schlote der Industriegebiete Straßburgs.

Der erste Tag war dann vollständig der heimlichen und doch ziemlich offiziellen Hauptstadt Europas gewidmet. Hier stand allerdings die Stadt selbst im Mittelpunkt, die an der Kreuzung wichtiger Straßen bereits zur Römerzeit wichtige strategische Positionen entwickelt hatte. Straßburg: Ganz einfach die Burg an der Straße. Am Vorabend hatten wir bereits in unserer Diskussion angeschnitten, warum eigentlich Straßburg ein europäisches Zentrum ist. Viele hatten gedacht, die gesamten europäischen Einrichtungen wären komplett in Brüssel konzentriert. Brüssel stand genau zu der Zeit, zu der wir in Straßburg waren, wieder einmal verstärkt im Focus der Politik. Die EU-Finanzminister debattierten über eine Erweiterung des Rettungsschirmes, wobei hier schon Beträge von über eine Billion Euro im Gespräch waren. Gleichzeitig ging es  um einen eventuellen Schuldenschnitt für Griechenland, wobei bereits eine 60 Prozentmarke im Gespräch war. Wer weiß, wie der Stand der Dinge beim Erscheinen dieses Textes ist.

Europäische Geschichte und Sinn und Zweck der europäischen Gemeinschaft bedingen die Lage der Zentren der EU gerade in diesen Städten. Eine zentrale Region des Kontinents. Ländergrenzen verschoben sich in historisch nachvollziehbarer Zeit immer wieder aufs Neue. In sehr kurzen Zeitabständen. Der Sonnenkönig, Louis der 14., eroberte zu seiner Zeit große Teile Deutschlands. Karlsruhe, Worms und andere Städte waren lange französisch. Straßburg blieb es. Erst durch den Deutsch-Französischen Krieg in den Jahren 1870/71 kam das Elsass wieder zu Deutschland. Nach dem ersten Weltkrieg gehörte es wieder zu Frankreich, um dann im Dritten Reich wieder zu Deutschland zu kommen. Und dann im Dritten Reich. Die Menschen hier sahen die Grenzpfähle also immer mal wieder auf der einen und der anderen Seite. Das formt.

Die astronomische Uhr des Straßburger Münsters erinnerte die Teilnehmer der Fahrt daran, dass die Zeit vergeht und das Leben endlich ist.  Egal, wie Grenzen gesteckt werden. So reihten wir uns am Mittag in die Hundertschaften ein, welche Einlass in das Münster begehrten. Notre Dame heißt es, wie die berühmte Kirche in Paris. Also unserer Lieben Frau geweiht, der Heiligen Maria. In der Wartezeit vor diesem gotischen Bauwerk kam die Diskussion auf, wie viele Jahre daran gebaut wurde. Ein zweiter Turm ist der Westfassade niemals aufgesetzt worden, einer wurde allerdings noch im Mittelalter vollendet und bis auf eine Höhe von 152 Metern gebracht. Die Meister der Zeit planten über Generationen. Sie wussten ziemlich genau, dass sie die Vollendung ihres  Werkes niemals erleben würden. Sie dachten auch vor allem an die Vollendung durch kommende Generationen oder sie dachten vielleicht auch gar nicht an die Vollendung ihres Ziels. Der Weg als Lebenswerk. Diskussionen vor dem Münsterportal. Das Bauwerk ist quasi nie vollendet worden, wirkt aber trotzdem wie eine Einheit. Obwohl ein Teil des nördlichen Seitenschiffes nie vollendet wurde und quasi der Chor mit dem Vierungsturm der romanisch-gotischen Kirche am hochgotischen Langhaus klebt und viel zu klein wirkt.  Drinnen dann die Präzision der Uhr. Die Apostel neigen sich vor dem Herrn. Dreimal krächzt der Hahn, um an den Verrat des Judas zu erinnern. der Tod schwingt die Sense, doch vorher durchlaufen ein Kind, ein Jüngling, ein Mann und ein Greis die Lebensbahn. Die Putti am Fuße der Uhr tun seit der Barockzeit ihre Pflicht und lächeln dabei. Sie dürfen unermüdlich die Glocke schlagen und die Sanduhr drehen. Jeden Tag um Mitternacht wechselt der Wagen mit den Tagesbezeichnungen. Jede Woche, jeden Tag, jeden Monat, jedes Jahrhundert.

Und wieder Stichpunkt Sprache. Auch am Montag waren die Erfahrungen recht unterschiedlich. Im Münster wurde der Film gezeigt, der die Funktionsweise der astronomischen Uhr beschreibt.  Er wurde dreisprachig präsentiert, wobei die deutsche Sprache an zweiter Stelle stand. Im Museum für Elsässer Volkskunde gab es lediglich französische Beschriftungen. Dafür waren die Inschriften, die auf den alten Tafeln, Truhen, Schränken und Bildern standen, oft in Deutsch verfasst. In den Geschäften und Restaurants wurde zum Teil nur französisch gesprochen, in den meisten wurde durchaus English verstanden. Leicht hatte es vor allem die Generation unter 27, die in der Schule die englische Sprache lernt.

Auffallend: Die Tracht ist im Stadtbild Straßburgs zahlreich zu finden. Auf Postkarten, an Puppen, als Holzschnitzerei, als Stickerei. Und der Storch. Symboltier des Elsass. Er bestimmt das Stadtbild von Straßburg nachdrücklich. Auf Schaufenstern, an Häusern, als Statue, als  Puppe, Mütze, Schlüsselanhänger und so weiter. Die Jugendlichen tragen Storchmützen und darüber noch einen blauen Schirm. Mit den gelben EU-Sternen. Es ist aber noch nicht der Rettungsschirm. Ja, Straßburg ist eben doch nicht bloß die heimliche Hauptstadt der EU.

Der Dienstag war der Erkundung des Elsass vorbehalten, jener Region, die so ganz stellvertretend für Europas wechselvolle Geschichte steht. Im Vorfeld sah es noch nicht so aus, als ob wir große Sprünge machen könnten. Finanzen. Doch dann gab es günstige Angebote. So war mehr möglich. Was nun als Ausflugsziel nehmen? Die Wahl fiel auf den Odilienberg, den heiligen Berg des Elsass. Dort ist die Schutzheilige des Elsass begraben, die heilige Odilie. Im nahen Städtchen Obernai, welches wir im Anschluss besuchten, wurde sie geboren. Damals galt es als unnütz, wenn ein blindes Kind auf die Welt kam. Ihr Vater gab sie deshalb in ein Kloster. Mit der heiligen Taufe erlangte Odilie ihr Augenlicht. Sie gründete das Kloster auf dem Odilienberg und tat auch eine wundertätige Quelle auf. Hierhin pilgern vor allem Augenkranke, denen das Wasser Heilung und Segen spendet. Vom Odilienberg reicht der Blick weit über das Elsass und die Vogesen bis hinüber zum deutschen Schwarzwald.

Groß ist der wirtschaftlicher Effekt des Parlamentes für die Region Straßburg und für das benachbarte deutsche Gebiet um Kehl.  Straßburg ist der ursprüngliche Sitz des Parlamentes, verkörpert damit ein Stück europäischer Geschichte. Frankreich ist bemüht, diesen Sitz zu erhalten, sichert er doch zahlreiche Arbeitsplätze in der Region. 1993 bekam das Parlament größere Rechte als vorher, und so kam der Wunsch auf, doch in Gesamtheit nach Brüssel zu ziehen. Dort sitzen ja zahlreiche Institutionen der EU, denen die Parlamentarier „besserauf die Finger schauen“ wollten. Frankreich und Deutschland wollten aber unbedingt den Straßburger Sitz behalten. Da eine derartige Entscheidung nur rechtskräftig werden kann, wenn alle EU-Staaten zustimmen, blieb der Hauptsitz des Parlamentes in Straßburg. In den 12 jährlichen Plenarsitzungen, die hier abgehalten werden, steigen die Gästezahlen in der Region erheblich. Das erfuhren wir nicht nur im Parlament, sondern auch vom Team unserer Jugendherberge in Kehl und von den Busfahrern vor Ort. Das Europäische Parlament zieht die Besucher ähnlich stark an wie der Deutsche Bundestag in Berlin. Nur an den Plenartagen Tagen kann das Parlament von interessierten Europäern besucht werden. Das regelt der Besucherdienst, wir hatten mit Christina Altides vom Deutschen Besucherdienst Kontakt, die uns auch nach der Teilnahme an der Plenarsitzung empfing.

Erster Eindruck bei der Plenarsitzung: Der Saal ist leer. „Das kommt daher, dass bei den Beratungen jeweils nur die Experten der Fraktionen die Standpunkte vortragen, welche vorher bei den Fraktionssitzungen festgelegt wurden.“
Zweiter Eindruck: Die Redezeiten der Abgeordneten sind stark beschränkt. Es geht nach Minuten, und ein Großteil der Redner bekam eine Minute Zeit. Ein Satz der sich uns eingeprägt hat: „Die Bürgermüssen vor Ort genau sehen, was mit ihrem Gel geschieht.“
Und wieder Sprache. Jeder Redner des Parlamentes spricht in seiner Muttersprache. Über 20 Sprachen werden im Parlament gesprochen. Alle werden übersetzt, so konnten wir über Kopfhörer den Verlauf der Plenarsitzung in Deutsch verfolgen. ein Team von Übersetzern sorgt dafür, dass das zügig geschieht. Manchmal stammen die Übersetzungen nicht aus erster Hand, nämlich dann, wenn bestimmte Sprachen nicht gleich ins Deutsche übertragen werden können. Dann werden sie in der Regel aus der englischen Übersetzung übertragen. Die Dolmetscher kennen die Redemanuskripte der Abgeordneten nicht und übersetzen völlig live.

Bei den Abstimmungen war der Saal voll, über 600 der Europaabgeordneten waren anwesend. Dort fiel uns vor allem auf, dass der Präsident relativ schnell festlegt, ob ein Vorschlag angenommen oder abgelehnt wird. Es wird nicht ausgezählt. Der Präsident entscheidet nach Augensicht, wie viel Nein- und Ja-Stimmen es gibt. „Das ist aus seiner Sicht von vorn sehr schnell möglich“, so Christina Altides vom Besucherdienst.  Diese Zählweise ist leicht zu verstehen, wenn man weiß, dass die Mehrheiten für eine Sache relativ eindeutig ausfallen. Im Europaparlament gibt es keine Koalitionen. Zustimmungen können durchaus parteiübergreifend sein. Das Abstimmen der Vorlagen geht so schnell, dass viele Abgeordnete nur nach der Liste stimmen, die ihnen schriftlich vorliegt. Da kann es auch passieren, dass man in der Zeile verrutscht und die Hand einmal falsch hebt. Um das zu vermeiden, zeigt der jeweilige Vorsitzende der Fraktion mit nach unten oder oben gehobenem, Finger, wie sich die Fraktion im Vorfeld festgelegt hat. Bei wichtigen Entscheidungen wird jedoch elektronisch abgestimmt. Das dauert länger, schafft jedoch eindeutige Ergebnisse.

Deutschland hat zur Zeit 99 Europaabgeordnete, Thüringen davon zwei. Einer davon, Dieter Koch, welcher sein Wahlkreisbüro in Weimar betreibt, stieß nach der Abstimmungsrunde zu uns und klärte uns über einige weitere wichtige Aspekte des Europäischen Parlamentes auf. Das Parlamentsgebäude in Straßburg ist im Prinzip mehr für Gäste gebaut als das in Brüssel. „Hier habven Plenarsaal und Besucherräume eine große und repräsentative Funktion, um den Bürgern der EU die Einsicht in die Arbeit des Parlamentes zu ermöglichen. Die Abgeordnetenbüros in Straßburg sind lediglich um die 10 Quadratmeter groß.“ Hier studieren die Abgeordneten in den Pausen nur die Akten, ihre Mitarbeiter arbeiten in der Regel in Brüssel. Dort finden auch die Fraktionssitzungen und die Vorbereitung der Plenartagungen statt.

Das Parlament setzt auch seine eigenen Beschlüsse um. Zum Beispiel ist es unüblich geworden, zwischen Brüssel und Straßburg das Flugzeug zu nehmen. Mittlerweile wird für Parlamentarier und Angestellte ein Sonderzug eingesetzt, der am frühen Montagmorgen von Brüssel nach Straßburg fährt und am späten Donnerstagabend der Plenarwochen zurück. Dieter Koch reist am späten Donnerstagabend allerdings in der Regel nach Thüringen, um dort vor Ort im Wahlkreisbüro, in Schulen und für die Bürger tätig zu sein. Speziell für die Thüringer ist über sein Weimarer Büro ein Newsletter erhältlich, in welchem Europäische Entscheidungen aufgelistet und erläutert werden, die für Thüringen Bedeutung haben.

 

Warum tun wir uns in Deutschland mit den Fremdsprachen so relativ schwer?  Ich glaube, unsere Tour ins Elsass und ins Europäische Parlament erklärt die Sache doch ein Stück. Deutschland ist nicht der Nabel der Welt. Der persönliche Nabel der Welt liegt viel näher, im Kleinen, im Nahbereich, in unserer Region. Diese sollte man verstehen im Leben und Frau und Kind. Natürlich. Dialekt sprechen. Idiom sprechen. Auch woanders. Jeder Bayer tut das, der Baden Württemberger. Aber jeder Sachse? Jeder Thüringer? Das erhöht tatsächlich auch die Bereitschaft, an sich selbst zu glauben. Das erhöht auch die Bereitschaft, andere zu verstehen. Und ihre Sprache zu lernen. was dann auch Englisch beträfe. Im Internetcafe in Straßburg war das Non plus Ultra, Und vielleicht auch mal französisch.


Dirk Koch

 
 
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